Die Zahlen

 

"Mit Zahlen lässt sich trefflich streiten,

mit Zahlen ein System bereiten,

an Zahlen lässt sich trefflich glauben,

von einer Zahl lässt sich nicht eine Ziffer rauben“.

(Abwandlung eines Spruches aus Goethes "Faust“)

 

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir Zahlen nicht unmittelbar erfassen können? Dass wir kein Sinnesorgan und keine Intuition dafür haben? Während wir zum Beispiel Farben, Gerüche, Töne und Klänge, Hell und Dunkel, Wärme und Kälte unmittelbar erfahren und beurteilen können, versagen wir bei Zahlen. Nur bei manchen Autisten mit hochentwickelten Inselbegabungen ist es anders: Die können beispielsweise auf Anhieb sagen, wie viele Fenster ein Wolkenkratzer hat. "Normalmenschen" verlieren hingegen sofort den Überblick. Mein Freund Martin, der Hühner in seinem Garten hält, erzählte mir neulich, dass jedes seiner acht Hühner ein Ei am Tag legt; darunter kann ich mir etwas vorstellen. Aber wenn ich in den Nachrichten höre, die Eierproduktion in Deutschland sei von 300 Millionen pro Jahr auf 400 Millionen gestiegen, dann übersteigt das mein Vorstellungsvermögen, und deshalb nehme ich die Zahlen einfach hin. Erst wenn ich rechne, werde ich skeptisch: "In Deutschland leben ca. 82 Millionen Menschen; wenn jeder ein Ei pro Woche isst, sind das 82 Millionen mal 53 Wochen, das macht knapp viereinhalb Milliarden Eier; wahrscheinlich isst jeder Deutsche aber wesentlich mehr Eier als eines pro Woche!" In der Tat sind es 12,3 Milliarden Eier, die in Deutschland jährlich produziert werden (Stand 2018). Wer macht sich die Mühe, so etwas genau nachzurechnen? – Sie sehen, wie problemlos man uns falsche Zahlen unterjubeln kann. Schwieriger wäre es, uns weiszumachen, etwas Rotes sei grün. Aber mit Zahlen geht das. Wenn jemand so unser Denken lenken wollte, hätte er leichtes Spiel mit uns.

 

Das Eier-Beispiel ist unverfänglich. Aber jetzt nehmen wir ein "Corona"-Beispiel: Am 2. Mai wurden für Deutschland ca. 164.000 "bestätigte" Covid-19-Fälle gemeldet. Diese Zahl fasst alle positiv Getesteten seit Beginn der Epidemie zusammen, darunter viele Menschen ohne jedes Krankheitssymptom. Gleichzeitig wurden ca. 127.000 "Genesene" und 6.700 Verstorbene gemeldet, die beide in der ersten Zahl enthalten sind. Mit diesen hohen Zahlen lässt man Sie allein, und es bleibt ein ungutes Gefühl zurück: "So viele Kranke!" Wenn Sie das in der Tagesschau sehen, kommt die nächste Meldung schneller, als Sie nachrechnen können. Das tun wir aber jetzt: Zieht man die Zahl der "Genesenen" und der Verstorbenen von der Zahl aller "bestätigten Fälle" ab, bleiben gut 30.000 Fälle übrig. Wirklich krank sind (laut "netdoktor.at") 20 Prozent, also ca. 6.000 Menschen. Jetzt addieren wir wieder die Zahl der Verstorbenen und erhalten so die Zahl der aktuell Betroffenen (also Kranken und bereits Verstorbenen): knapp 13.000. Das ist weniger als ein Zehntel der "bestätigten Fälle" und 0,016 Prozent der Gesamtbevölkerung. Warum veröffentlicht man nicht täglich diese wichtige Zahl der 13.000 Betroffenen an erster Stelle, und die viel weniger relevanten 164.000 "bestätigten Fälle“ erst im "Kleingedruckten"?

 

Nebenbei sei auf eine unterschwellige sprachliche Manipulation aufmerksam gemacht: Die Formulierung "Genesene" suggeriert, die 164.000 irgendwann infizierten Menschen seien auch wirklich alle krank gewesen, denn wer nicht krank ist oder war, braucht auch nicht zu genesen. Zum Beispiel war mein Vater – 86 Jahre alt, mit seiner künstlichen Herzklappe vorgeschädigt, dann positiv getestet, zwei Wochen in Quarantäne und nun "offiziell coronafrei" – nicht eine Sekunde lang krank, zählt aber zu den "Genesenen". Das ist sogar irgendwie lustig …

 

Besonders verwerflich ist die Nennung von absoluten Zahlen ohne Bezugsgrößen. Wer lesen muss: "Corona in NRW: Zahl der infizierten Personen steigt drastisch an" und, gemäß dem RKI "seien weitere 371 Personen in NRW positiv auf Covid-19 getestet worden", wurde Null-Komma-Null informiert. Warum? Ganz einfach: Um beurteilen zu können, ob dies eine gute oder schlechte Nachricht ist, müsste man wissen, wie viele Tests gemacht wurden, und an wem. Es ist doch logisch: Je mehr Menschen ich teste, desto mehr positive Ergebnisse bekomme ich! Und wenn ich nur Menschen mit Symptomen teste, bekomme ich natürlich andere Ergebnisse, als wenn ich auch Menschen teste, die völlig gesund sind. Um es ganz deutlich zu machen, sei folgender Fall angenommen: Es werden in einer Woche 100 Menschen getestet, 20 (= 20 Prozent) davon positiv. In der folgenden Woche werden 1.000 Menschen getestet, 100 (= 10 Prozent) davon positiv. Daraus kann eine Zeitung die Meldung machen: "Zahl der Infizierten von 20 auf 100 (um 500 Prozent) gestiegen!", eine andere Zeitung die Meldung: "Prozentsatz der Infizierten von 20 auf 10 Prozent gesunken (halbiert)!" Welche Zeitung hat Recht? Medien lügen vielleicht nicht bewusst, aber denken Sie an die zynische Journalistenregel: "Only bad news are good news".

 

Ein wunderbar abstruses Beispiel für Zahlen-Manipulation will ich Ihnen nicht vorenthalten! 2002 hatte das Bundesgesundheitsministerium ein Mammografie-Screening für Frauen empfohlen, und Prof. Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin fand heraus, dass das Ministerium den Nutzen dieser Maßnahme falsch dargestellt hatte. Von je tausend Frauen waren ohne Screening 14 und mit Screening 10 Frauen an Brustkrebs gestorben, und das Ministerium warb damit, dass sich durch das Screening "eine bis zu 35 Prozent reduzierte Brustkrebssterblichkeit" zeige. Nun entspricht eine Reduzierung von 14 auf 10 zwar im Prinzip einer Reduzierung um 35 Prozent, nur hatte man "vergessen", die "Kleinigkeit" zu erwähnen, dass nicht weniger als tausend Frauen untersucht worden waren. In Wirklichkeit war also die Sterblichkeit von 14 Tausendstel auf 10 Tausendstel, also nur um einen knappen halben Prozentpunkt gesunken!

 

Als Prof. Gigerenzer diese Fehlinformation öffentlich kritisierte, rechtfertigte Prof. Karl Lauterbach, damals Mitarbeiter im Gesundheitsministerium, das Vorgehen mit folgenden Worten: "In diesem Punkt kann man geteilter Meinung sein! … Die Gesundheitsministerin klärt bei der Begründung der Programme keine einzelnen Frauen auf, sondern die Öffentlichkeit. Wenn ein einzelner Arzt Patientinnen berät, sollte er, wie Herr Gigerenzer, das absolute Risiko und dessen Senkung nennen ..." – Das nenne ich dreist! Lauterbach vertrat übrigens 2014 plötzlich eine ganz andere Meinung: "Alle neuen Erkenntnisse sprechen in der Tendenz eher gegen das Screening." Und derselbe Lauterbach äußert heute "immer wieder als Experte … seine Ansichten zur Pandemie und zu den getroffenen Maßnahmen", das ist sogar Wikipedia eine Erwähnung wert. Welche Meinung er dazu wohl in zwölf Jahren vertreten wird? – Man sollte bei seinen Talkshowauftritten die alte Geschichte im Hinterkopf haben.

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