Sapere aude!
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, und zwar „ohne Leitung eines anderen“, fordert mich Kant in seiner Definition der Aufklärung auf. Nichts anderes versuche ich. Mut erfordert das erstens, weil man sich ja irren könnte. Und zweitens: Wenn ich plötzlich allein auf weiter Flur stehe mit einem selbstentwickelten Gedanken, von dessen Richtigkeit ich überzeugt bin, dann brauche ich ein beachtliches Selbstbewusstsein, um diesen Gedanken der ganzen Welt gegenüber zu vertreten und nicht an mir selbst irre zu werden. So wie Martin Luther: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir!“
Viele glauben, sie würden scharfsinnig oder klug denken, weil sie Gedanken in sich finden, die sie für wertvoll halten. Aber die Tätigkeit des Denkens ist nicht identisch mit seinen Inhalten. Es können nämlich auch fremde Gedanken von außen in uns eindringen, ohne dass wir es merken, und wir halten sie dann für unsere eigenen. Die Verwechslung von Gedanken mit dem Denken scheint mir ein vielfach begangener und verhängnisvoller Fehler zu sein. Das Denken ist aber, unabhängig von seinen Inhalten, eine Methode, um sich der Wirklichkeit zu nähern. Auf dieser Methode beruht u.a. die Idee der Meinungsfreiheit; ich würde sie lieber „Denkfreiheit“ nennen. Denn wenn in einer Gesellschaft alles geäußert werden darf, ohne jede Ausnahme und ohne Tabus, dann sind alle gezwungen, sich auch mit den scheinbar abgelegensten Ideen ihrer Mitmenschen ernsthaft auseinanderzusetzen. So lernt man zu denken! Es gibt ein schönes Rollenspiel, um so etwas zu üben: Man führt zu zweit oder mehreren eine Diskussion, bei der jeder eine Meinung zu vertreten hat, die er eigentlich verabscheut.
Aber Achtung: Jetzt könnte man auf die Idee kommen, durch die geleistete Denkarbeit über Generationen hinweg müsste sich dann doch irgendwann eine „richtige“ Meinung herauskristallisieren, und die „falschen“ könnten weggeworfen werden. Das ist eine gefährliche Vorstellung! Denn dann würde irgendwann einmal eine Generation geboren, der man sagt: „Hört zu, wir haben lange über die richtigen und falschen Gedanken gestritten und sind endlich zu einem Ergebnis gekommen: Das habt Ihr jetzt zu übernehmen!“ So aber würde die Gedankenfreiheit im Laufe der Zeit nicht nur sich selbst, sondern auch das Denken abschaffen (Sind wir in dieser Gefahr? Ich meine ja).
Wenn also Voltaire wirklich (wie behauptet wird) zu einem Gegner gesagt hat: „Auch wenn ich das, was Sie sagen, verabscheue, werde ich immer dafür eintreten, dass Sie es sagen können“, dann war das nicht nur Großherzigkeit oder Toleranz, sondern dahinter steckt ein vertieftes Verständnis vom Denken. Ein drastisches Gegenbeispiel wäre ein Moralist, der vielleicht lauter schöne Gedanken von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und dergleichen in sich trägt. Vielfach werden solche Gedanken in Schlagworte gegossen, und wer dann in den Chor derjenigen mit einstimmt, die „Gemeinsam gegen Rechts!“ oder „Gemeinsam gegen den Klimawandel!“ rufen, gilt als Vertreter „richtigen“ Denkens. Sieht er dieses Gedankengut verletzt, kommt ihm vor lauter Empörungsgefühl nicht in den Sinn, dass er vielleicht Grundgesetze des Denkens missachtet haben könnte. Mit Logik ist solchen Menschen nicht beizukommen, und ich habe gelegentlich beobachtet, dass die Menschenliebe manchem von ihnen verdächtig schnell ausgeht. Sie haben jetzt Hochkonjunktur und wissen immer, was für alle richtig ist: „Dies (z.B. Maske tragen) müssen wir unbedingt alle tun, jenes (z.B. Konzerte veranstalten) darf auf keinen Fall irgendjemand tun!“ Wer solche Parolen ausgibt oder nachbetet, hat mit Denken nichts am Hut. „Lustig“ ist es auch, wenn wie auf Kommando unzählige Menschen plötzlich alle eine identische Meinung haben und felsenfest überzeugt sind, es wäre ihre eigene!
Zum eigenständigen Denken führt als erster Schritt die Anschauung der Welt um uns herum. Was damit gemeint ist, wird hoffentlich noch deutlicher werden, eines ist aber klar: Anschauen kann ich etwas nur mit meinen eigenen fünf Sinnen, da hilft mir kein noch so gutes Buch und erst recht kein Presseartikel und kein Fernsehkommentar. Sehr gerne zitiere ich dazu wieder Kant: „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“
Hier ein kleines Beispiel dafür, wie ich „Anschauung“ verstehe und praktiziere: Ich fuhr vor ca. sechs Wochen mit dem Auto gut
2.000 km durch Deutschland, und auf der Autobahn fiel mir weit nach der Hälfte dieser Reise plötzlich ein (!) Leichenwagen auf. In demselben Moment wurde mir erst bewusst, dass dies tatsächlich der einzige Leichenwagen war, der mir während dieser ganzen Zeit begegnet
war (ich traf auch keinen zweiten mehr). Und das in einer Zeit, da die Menschen durch eine gefährliche Seuche reihenweise dahingerafft werden. Na
sowas! Man sagt mir zwar: „Das ist eine läppische Beobachtung, darauf kannst Du nichts
aufbauen“. Aber nachdem ich von dieser Reise nach München-Stadtmitte zurückgekehrt war, achtete ich, durch diese kleine
Beobachtung sensibilisiert, drei Tage lang darauf, ob ich wohl Noteinsätze von Rettungsfahrzeugen bemerken würde; durch das Fenster unserer Wohnung hat man das Ohr quasi direkt auf der Straße.
Aber: nichts, kein Tatü-Tata drei Tage lang. Im Zentrum einer Millionenstadt! Man sieht: Die eigene Anschauung widerspricht
manchmal dem, was uns als Denkmuster von außen vorgegeben wird. In diesem Moment machen viele den Fehler, der eigenen Anschauung weniger zu trauen als dem Denkmuster. Man sagt sich
dann: „Ach, das wird Zufall sein, die Leichenwagen fahren eben zu anderen Zeiten,
oder auf anderen Strecken, oder ich habe nicht aufgepasst“, oder:
„Gerade im einem Stadtzentrum wohnen gar nicht so viele Leute, in den Wohngebieten sieht's sicher
anders aus“. Tut es nicht, ich habe im Freundeskreis herumgefragt. Ich schließe
also, dass nicht mehr Tote und akut schwer Kranke befördert werden müssen als sonst. Andernfalls sähe und hörte man mehr Leichen- und Krankenwagen. Logisch, oder?
Solche kleinen, eigenen Beobachtungen sind wichtig. Ich sammle sie. Ich bin überzeugt: Aus vielen derartigen Puzzlesteinen setzt sich irgendwann ein in ziemlich vielen Punkten mit der Wahrheit übereinstimmendes Bild zusammen. Ich betreibe, indem ich so vorgehe, eigentlich bereits Wissenschaft. Denn ich beobachte und ziehe logische Schlüsse, das ist ein wissenschaftliches Vorgehen. Übrigens – ich habe das schon an anderer Stelle gesagt – ist dies das klassische Verfahren, mit dem die berühmten Detektive der Kriminalliteratur arbeiten.